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Karmin – Der Farbstoff als Exportschlager

Karmin - El Hierro und die LäuseMit echtem „Karmin“ steht auf dem Erdbeer-Joghurt. Das klingt besser als „mit E120“, mag sich der Hersteller gedacht haben. Die ganze Wahrheit wollte er freilich nicht ins Kleingedruckte aufnehmen, sonst stünde dort: mit Farbstoff, gewonnen aus zerriebenen Läusen. Doch wer möchte so etwas lesen auf einem Joghurt. Echtes Karmin ist eine Seltenheit, es wird fast nur noch für Lippenstifte verwendet, seit 1897 die Badische Anilin- und Sodafabrik als Karmin-Ersatz synthetisches Anilin erfunden hat. Für die Menschheit war das ein Fortschritt. Für die Bewohner der kargen Kanaren-Insel El Hierro aber war es ein Desaster.

Karmin – El Hierro und die Läuse

Die Zucht der färbenden Laus war so ziemlich das einzige, was auf der westlichsten der sieben kanarischen Inseln Geld brachte. Denn El Hierro hat ein kompliziertes Klima: Es ist sowohl feucht als auch dürr. Passatwinde prallen ungebremst an die steilen Abhänge und bleiben dort hängen wie Plakate an Bauzäunen, tage- und wochenlang. Andererseits verbrennt die Sonne auf der windabgewandten Seite den Boden mit afrikanischer Glut.

Den wüstenähnlichen Charakter der Landschaft verstärken die Opuntien. Diese Kakteen waren aus Mexiko zur Zucht der Cochenille-Laus eingeführt worden – der Ohrenkaktus ist ihr Zuhause. Von ihm wurden die Läuse abgekratzt und zerrieben, um den kostbaren Farbstoff herzustellen. Als der Marktwert von Karmin ins Bodenlose stürzte, wanderte El Hierro aus, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Denn noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein ernährte El Hierro seine Bewohner mehr schlecht als recht.